Mein Großvater war einer der erwähnten 5 Brüder, nämlich Franz Jäcker. Aus Erzählungen meines Vaters weiß ich, wo das damalige Haus der Familie Jäcker an der Mindener Straße stand. Das Grundstück war, nach dem Abbruch des Hauses, ein Teil des Geländes der „Weserhütte“ geworden. Den, in dem Aufsatz erwähnten Birnbaum, gab es später noch. Dort haben mein Vater und ich oft, die besonders leckeren Birnen geerntet. Der Schuhmachermeister Karl Schormann, der Vater meines Freundes Hermann Schormann, war direkter Nachbar und hatte noch Erinnerungen an das Haus unserer Vorfahren.
Die Fotos zeigen: Das Haus unseres Urgroßvaters Ferdinand Jäcker, an der Mindener Straße. Vor der Haustür stehen Ferdinand und seine Frau Margarete (Mit Hund). Über der Haustür erkennt man den Namen des Eigentümers: F. Jäcker, darunter die Hausnummer 313.
Die Großeltern Jäcker (aus der Sicht von Margarete Schulze geb. Günther)
Ferdinand, geb. 10.09.1849 in Lennep
Margaretha geb. Cremer, geb. 17.9.1848 in Hemmerden, Kreis Grevenbroich
Das liebe Jäckerhaus in Rehme! Wieviel Liebe haben wir dort empfangen, wieviel Gutes fand von dort aus den Weg zu uns! Von den Familien der beiden kann ich wenig sagen, obwohl besonders Großmutter Einzelheiten aus ihrer Heimat berichtete. Sie hatte eine sehr robuste Schwester Trina, genannt “Möng” (Muhme) “Tring”, schlagfertig mit Mund und Händen. Manchen drastischen Ausspruch von ihr erfuhren wir hier und da. So z.B., als die Familie während eines Gewitters betete: “Et klört sick op, wi brukt nich mehr to bichten!” (beichten). Einmal, als ein ungeliebter Besuch abgezogen war: “Han se sich der Wanst vull jefräten…” Auf die Frage, was man essen werde: “Mer stellt uns mit der Buk vör de Oben (Ofen) und wärmet et wedder op!” Mutter erzählte uns von den Besuchen bei ihr. Sie wurde jedesmal gern aufgenommen, aber es ging derb zu. Möng Tring hatte einen Sohn Wilhelm, der außerordentlich gutmütig, aber mit einer überaus dicken Haut gesegnet war. Es gab einfach nichts, was ihn hätte aus der Ruhe bringen können. Es kam vor, daß sie sich darüber so erboste, daß sie zuschlug. Er hielt seelenruhig still. Heiraten durfte er natürlich nicht, verspürte auch wohl wenig Lust, eine junge Frau auf den Hof zu bringen. Im oder nach dem 2. Weltkrieg war Mutter zum letzten Mal dort. Möng Tring lebte nicht mehr, Wilhelm hatte nun doch geheiratet, und zwar eine so resolute, herbe Frau, daß er vom Regen unter die Traufe gekommen war. Sie verhandelte gerade mit einer Hamsterin und begegnete Mutter so abweisend, als sei diese gekommen, sie ordentlich zu schröpfen. Man hatte auf dem Hof eine besonders köstliche Birnensorte, von der wir früher gelegentlich auch eine Kostprobe erhalten hatten. Diese standen da, die Hamsterin hatte welche bekommen. Als Mutter unglücklicherweise um eine bat, war das schlimm. Sie machte sich bald auf den Heimweg.
Großvater hatte mehrere Schwestern, ob auch Brüder, habe ich vergessen. Tante Minchen wohnte zu der Zeit, als wir in Barmen waren, in Remscheid als Witwe. Ihr Sohn Carl Freund war an der Post in guter Stellung. Mutter mochte ihn gern. Ob er noch später geheiratet hat? Wir kannten ihn nur als Junggesellen. Dann war da noch das vornehme Hannchen, dessen lila seidenes Kleid uns imponierte, und Tante Anna war in Los Angeles verheiratet mit Onkel Robert, einem Pastor. Beide waren imposante, liebenswerte Menschen. Wir sahen sie ein paarmal, wenn sie bei Bruder Ferdinand Urlaub machten. – Ein sehr schönes Bild besaß unsere Mutter von ihrem Großvater Jäcker aus Lennep. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mensch mit schönen Zügen. Als ich es bei ihr in Barmstedt in ihrem Luftschutzgepäck bemerkte, bat ich sie, es zur Vervielfältigung zum Photographen bringen zu dürfen, damit auch unsere Kinder dieses wertvolle Andenken bekommen könnten. Sie wollte sich aber nicht davon trennen. So ist es bei ihrer Ausbombung umgekommen. Das geschah leider auch mit anderen Papieren. Aus Tante Ides Nachlaß hatte sie u.a. meinen sehr ausführlichen Bericht über Vaters letzten Tag mitgebracht. Ich erbat ihn zurück, leider auch vergeblich. Er wurde mit anderen Andenken zerstört. Von Mutters Großmutter Jäcker haben wir nie ein Bild gesehen und wissen auch gar nichts von ihr. Sie war am 7.9.1811 in Küllenhahn bei Cronenberg geboren und starb am 28.2.1890 in Lennep. Ob sie die letzten Lebensjahre bei einem ihrer Kinder verbracht hat und dort starb? Es tut uns leid, von dieser Generation so wenig zu wissen. Um so lebendiger steht mein Großvater vor uns. Er war wie seine Vorfahren evangelisch, Großmutter katholisch wie ihr ganze Familie. Großvater war schneidig, groß, stattlich, hatte bis zu seinem Tode dichtes, schwarzes Haar. Er machte als Husar den Krieg 1870/71 mit, und zwar auch den Todesritt von Mars-la-Tour und Vionville, der überaus mörderisch verlief. Er besaß eine Dankmünze davon nebst sonstigen Krieg- und Militärerinnerungen und war überzeugtes Mitglied der Kriegervereins. Am 3.6.1873 heiratete er in Düsseldorf unsere Großmutter. Sie erzählte davon, wie sie gemeinsam zur Trauungsanmeldung zum katholischen Pfarrer gegangen seien. Er habe die Braut zunächst mit ins Nebenzimmer genommen, um ihr ein letztes Mal ins Gewissen zu reden: “Gretchen, der Schritt, den du tun willst, gefällt mir gar nicht!” Großvater öffnete rasch die Tür. “Das ist auch gar nicht nötig, Herr Pastor. Die Hauptsache bleibt, daß er uns gefällt.” Großvater war Lokomotivführer, daß junge Paar wohnte in Dortmund, wo am 27.1.1875 unsere Mutter als ältestes Kind geboren wurde. In verhältnismäßig schneller Folge kamen im ganzen 13 Kinder zur Welt. Wie es damals leider oft geschah, starben eine ganze Reihe klein im Säuglingsalter so wie bis zu 2 Jahren und wenig älter.
Erwachsen wurden außer Mutter 5 Brüder. Franz und Ferdinand zwischen 1876 und 1883 geboren, Karl 1884, Willy 1887, Walther 1889. Als Älteste hat sie beim Aufziehen der Geschwister tüchtig helfen müssen. Der im Alter ihr folgende Franz ließ sich Zeit mit dem Trocken- und Sauberwerden. Sie schämte sich furchtbar, wenn sie mit ihm an der Hand auf der Straße ging und aus seinen Hosenbeinen an den Strümpfen und Schuhen herunter “Kleines” und “Großes” rann. Auch die Sterbestunden einiger kleiner Geschwister erlebte sie mit, so die des etwa 2-jährigen Mariechen, das an Krämpfen und großer Atemnot in der Todesnacht litt. Großmutter trug es auf den Armen im Zimmer hin und her, um die Angst und Qual zu lindern. Auf einmal ließ das Kind das Köpfchen hintenüberfallen, stieß einen kleinen Seufzer aus und war tot. Großmutter war so erschrocken, daß sie einen lauten Schrei ausstieß. Da riß die Kleine mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, der ihr durch und durch ging und den sie nie vergaß, gewaltsam die Augen auf, begann wieder zu atmen und wimmern und durchkämpfte noch etwa 24 unsagbar notvolle Stunden. Nie wieder werde sie sich beim Tode eines Menschen gehen lassen, beteuerte Großmutter. – Auch Albertchens Tod durchlitt Mutter mit Großmutter. Alles, was sie mittragen und wobei sie helfen mußte, hat sie geprägt. Zugleich gewann sie eine gewisse Autorität gegenüber den meist viel jüngeren Brüdern. Diese liebten ihre einzige Schwester, mußten sich ihr aber fügen, wenn gewiß auch nicht immer gern.
Als Mutter 6 Jahre alt war, saß am Tag vor Heiligabend Großmutter mit ihren Kindern in Dortmund in der Küche. Sie putzten Bestecke und sangen erwartungsfroh Weihnachtslieder. Da wurde unten die Haustür geöffnet und laut “Frau Jäcker!” gerufen. Ein paar Kollegen brachten in einem großen Korb (so Großmutters Bericht – wieso Korb, weiß ich nicht) den völlig verbrühten und dem Tode nahen Vater der Familie. Auf dem Essener Hauptbahnhof war seine Schnellzuglokomotive aus den Gleisen gesprungen, wobei der Kessel platzte und das kochende Wasser sich über den Lokomotivführer ergoß. Da er immer nur nach “Mutter!” jammerte und man ihn für sterbend hielt, brachte man ihn tatsächlich zu ihr. Für uns heute undenkbar, daß er nicht auf die schnellste Weise ins Krankenhaus gebracht wurde. Nun, er starb nicht, sondern es folgte eine jahrelange schwierige Behandlung. Nachdem er im Krankenhaus vieles durchgestanden hatte und mühsam an 2 Krücken humpeln konnte, wurde er zur Kur nach Bad Oeynhausen geschickt. Monat um Monat verging, bis er erst an einer Krücke und einem Stock, danach an 2 Stöcken und schließlich an einem gehen konnte. Er sollte aber weiterhin die Heilbäder und andere Kuranwendungen wahrnehmen. Da entschlossen die Großeltern sich, ganz nach dem Badeort zu übersiedeln. Zuerst wohnten sie in Rehme an der Mühle, wo sie nach ein paar Jahren völlig abbrannten. Sie erwarben das Haus Mindener Str. 313, das erste in Rehme direkt an der Oeynhausener Grenze. Es war schön geräumig, und ein großer Garten gehörte dazu. Durch die schnurgerade, bis weit nach Oeynhausen hineinreichende Reihe herrlicher alter Linden, von denen eine vorm Hause wuchs, lag es wie alle anderen von der Straße zurück. Ich könnte alles noch genau aufzeichnen: den mit einem Eisenstaket, dessen einzelne Stäbe pfeilartige Spitzen trugen, abgegrenzten Vorgarten mit seinem bunten Blumenflor: viel Phlox, Rittersporn, Levkojen usw. Nahe der Straße im Lindenschatten stand die gemütliche Laube, wo wir oft Mittag aßen und Kaffee tranken. Links vom Haus zog sich an der Straßenseite bis zum Nachbargrundstück eine lange Reihe Pflaumenbäume. Der ganze Garten reichte weit hinunter bis ans Gelände der Weserhütte. Am äußersten Ende stand der “große Bienenschobben”. Alles, was man sich an Obst und Gemüse denken kann, wurde sorgfältig und erfolgreich im Garten gezogen. Die Wege waren mit Buchsbaum eingefaßt, an den Rändern wuchsen die köstlichsten Beeren verschiedener Art. Am Ende des breiten Mittelweges links vom Hause stand ganz hinten der behäbige Ziehbrunnen, für uns Kinder natürlich hochinteressant. Wenn die schwere eiserne Kette abrollte, der Eimer in die Tiefe sank, das Wasser tief unten blänkerte (?) und dann im gewichtigen Holzeimer quietschend und überschwappend ans Tageslicht kam – das war schon was! Wie mühsam aber der weite Weg zum Hause mit meist 2 schweren, vollen Eimern – und das auch bei Sturm, tiefem Schnee, Eisglätte! So blieb es durch all die Jahrzehnte. An der Gartenseite des Hauses wuchs der schönste süßeste Wein! Die Riesenregentonne wachte an der Hausecke. Und nun die rechte Gartenseite: Von der Hintertür aus betrat man den großen Hof, auf dem man gern saß beim Kartoffelschälen, Gemüseputzen u.a. Nach dem Garten zu stand ein jedes Jahr üppig tragender großer Birnbaum, leider eine frühe Sorte, die sich nicht hielt. Da man gar nicht alle so schnell verbrauchen konnte, kamen viele um, der Boden war in der entsprechenden Zeit übersät von Früchten. Ein immer bereiter Abnehmer war das Schwein. An den Hof schloß sich die von Großmutter scharf bewachte eingefriedigte Bleiche an, die nach Möglichkeit außer zu ihrer Bestimmung überhaupt nicht betreten werden durfte.
Großmutter hielt viel auf blendend weiße Wäsche. Diese Tatsache und daß das ganze Haus wie auch sie selbst immer blitzsauber waren, hat mich oft verwundert, da sie mit ihren schwachen Augen doch so kümmerlich sehen konnte. Am Mittelweg, wo die große Bleiche endete, wuchsen köstliche Bergamottbirnen mit ihrem würzigen Aroma – leider fast ausschließlich fürs Einmachen freigegeben. Hinter dem Holzzaun der Bleiche folgte noch ein Stück Gemüseland. Im ganzen Garten verteilt gab es gute Obstbäume.
Als wir einmal gerade zu den Ferien in Rehme angekommen waren, erfüllte die Freiheit ringsum den Stadtjungen Karl so mit Tatendrang, daß er den zum Empfang erschienen Vetter Walter – Onkel Franz Ältesten – , genau ein Jahr älter als Karl, mitriß: “Nun wollen wir den ganzen Gartenweg immer rauf- und runterlaufen, mal sehen, wer schneller kann!” Walter machte das einmal mit, dann meinte er ruhig: “Lauf man alleine, ich bleibe hier stehen und warte auf dich.” Karl rannte tatsächlich lustvoll weiter.
Jetzt betreten wir das Haus durch die Vordertür. Die erste Tür links führt vom fliesenbelegten Flur ins Wohnzimmer, das Fenster nach dem Garten wie nach der Straße besitzt. Unter den Fenstern nach vorn stehen – nun weiß ich nicht mehr – eine Bank oder eine Reihe Stühle, davor ein langer Eßtisch. An seinem Kopfende ist Großvaters Platz. Er aß aber nie mit der Familie, immer nachher allein, und zwar las er dazu die Zeitung. Wie genau sehe ich ihn da sitzen mit der Brille auf der Nase! Immer bekam er eine Bouillonvorsuppe. Da er seines schwachen Magens wegen sehr wenig aß, bereitete ihm Großmutter hochwertige Mahlzeiten. Das Wohnzimmer war einfach und zweckmäßig möbliert und sooo gemütlich! Rechts oben in der Wand gegenüber der Straßenseite führte eine Tür ins großelterliche Schlafzimmer. An der rechten Wand stand das riesige 2-schläfrige Bett, gegenüber von der Tür der überdimensionale Kleider- und Wäscheschrank, aus dem immer ein Duft von feinen Kräutern strömte. Interessant war uns auch der vorm Fenster untergebrachte Wasch- und Toilettentisch. Daß Großmutter sich nur mit Lilienmilchseife wusch – das Stück zu 50 Pfg.! – fanden wir bewundernswert. Ihren Kammkasten mit den mancherlei Utensilien inspizierten wir gern. Nachts lag darauf der falsche Zopf. Solange wir Großmutter kannten, trug sie die gleiche Frisur, über der Stirn 2 nach innen aufgerollten Locken beiderseits eines kurzen Scheitels. Hinten war das dunkle Haar stramm hochgekämmt und auf dem Kopf thronte eine Flechtenkrone. Sie sah immer apart und gut aus. Gegenüber von der Wohnzimmertür gings ins “gute Zimmer”, das denen damaliger Zeit entsprach mit Polstermöbeln, großem Spiegel, Vertiko und allerlei Zierrat. In der linken oberen Ecke befand sich eine Tür zum Gäste- , früher wohl einem Kinderzimmer, in das man auch vor der Küche aus kam. Dort schliefen wir meistens – auch in so einem Riesenbett, wenn wir dort waren. Ein gewaltiger Kleiderschrank, Waschtisch, Kommode, Stühle, manchmal auch eine Art Truhe füllten das Zimmer. Sein Fenster ging auf den Gang, der das Grundstück vom Nachbarhaus trennte. Man blickte in das Fenster der fleißigen Plätterin, die da tagaus, tagein schuftete und eine gute Nachbarin war. Ihr Name fällt mir im Augenblick nicht ein, wird mir aber bestimmt wiederkommen. *) Seeger hieß sie! Ging man diesen Gang hinauf bis zur Hausecke, so stieß man auf den Weg vor der Bleiche und links am Haus auf den Schweine-Auslauf, der schön groß war. Um die Ecke herum ging’s wieder auf den Hof.
Gegenüber von der Haustür lag die Küche, links davon führte die Kellertür nach unten. Die Küche war mit großen roten Platten belegt, wahrscheinlich Sandstein; denn sie waren so porös, daß sie alles aufsaugten. Jeden Sonnabend mußten sie mit “Menschensaft” (Schweiß), so Großmutter, gescheuert werden. War das eine Arbeit, besonders um den Herd herum, wo Fettspritzer u.a. sich festgesetzt hatten! Man konnte verzweifeln dabei, durfte aber nicht aufhören, bis alles leuchtete und klar war. Wenn wir dort waren, übernahm Mutter das, als ich größer war, mußte ich helfen. Von der Küche aus führte eine Tür in den “Schobben”, eine Art Hinterflur oder Vorraum. Dort befanden sich die Wasserbank, einige Regale, ein Arbeitstisch und 2 Türen öffnete sich “in’n Abbee” (Abort), wie Großmutter sagte, und in den Schweinestall mit einem kleinen Vorraum. Hier hat Karl sich auch ein paar Stückchen geleistet. Einmal sahen wir ihn vom Küchenfenster aus mit einem langen Stock aus dem Schuppen über den Hof um die Hausecke jagen – im Galopp zurück – und so immer weiter. Inzwischen erhob sich ein schreckliches Schweinegequieke. Was tat der Bengel? Er trieb das arme Tier dauernd vom Stall in den Auslauf und zurück. Ein andernmal wurden wir alarmiert durch jämmerliches Katzengeschrei. Großmutter ging ihm nach und entdeckte ein junges Tierchen verzweifelt bemüht, sich aus dem “Abee” zu retten. Karl hatte es hineingeworfen – bloß um mal zu sehen, wie es sich wohl anstelle. Es war kein angenehmes Beginnen, es herauszufischen, abzuseifen (eine Katze!), trockenzurubbeln usw. Der Gestank, das Gezeter! Die Sache lief nicht gut aus für den Übeltäter.
Nun steigen wir noch rasch die Treppen neben der Wohnzimmertür nach oben. Auf dem Flur vorm Fenster steht ein großes Tafelklavier, das einmal angeschafft wurde für Mutter, als sie Kind oder junges Mädchen war. Links davon befindet sich ein Zimmer, gegenüber eine Bodenkammer, daneben die Strohkammer, aus der durch eine Luke frische Streu in den Schweinestall geworfen wird. Nach vorn heraus liegt links ein Raum, dessen Duft mir ganz gegenwärtig ist. Da hängen die Schinken und Würste, in Säcken duftet das Dörrobst: Birnen, Pflaumen, Äpfel. Ringsum stehen die großen Steintöpfe mit Sauerkraut, Schnittbohnen, Gurken verschiedener Art, Pflaumenmus und derlei guten Dingen, soweit sie nicht besser im Keller aufgehoben sind. Rechts von diesem Raum befindet sich ein freundliches Zimmer, das zu unserer Eltern erster gemeinsamen Wohnung gehörte und nebst einem oder 2 anderen später auch nochmal an ein junges Ehepaar vermietet wurde, an dessen molliges Baby ich mich noch erinnere.
Ich erwähnte Großmutters kranke Augen. Als sie als junge Frau im Winter Wäsche auf von gleißender Sonne bestrahltem Schnee bleichte, erblindete sie urplötzlich. Langer Aufenthalt in einer Augenklinik mit Maßnahmen verschiedener Art, auch Operationen, brachte ihr nur eine sehr geringe Sehkraft zurück. Über ihren großen hellblauen Augen lag ein Schleier. Trotzdem erweckte sie keinen unsicheren Eindruck. Zu ihrem sehr aufrechten Gang und der geraden Haltung paßte ihr resolutes Wesen.
Vor der katholischen Hochzeit hatte Großvater versprochen, daß alle Kinder katholisch werden sollten. Tatsächlich wurden sie sämtlich katholisch getauft. Aber weiter hielt Großvater, obwohl er im Gegensatz zu seiner Frau religiös ziemlich gleichgültig war, sich nicht an sein Wort, die dadurch in große Gewissensnot geriet. Die Kinder besuchten die Rehmer Schule, die einen glaubensstarken Kantor und von ihm guten Religionsunterricht hatte. Während der Schulzeit bestimmte Großvater in einer Anwandlung, Ferdinand und Karl könnten katholisch werden. Sie wurden an die Bad Oeynhausener katholische Schule überwiesen und sogar zu Messknaben gemacht. Aber beide wurden, sobald sie konnten, wieder evangelisch. Großmutter litt außer ihrer eigenen Pein an den Mahnungen und Vorwürfen ihres Pastors, der sie bedrängte mit Fragen, wie sie mit leeren Händen dereinst vor Gott bestehen wolle usw. Sie strebte danach, ihre Schuld auszugleichen. Als z.B. eine große Kleidersammlung für Bedürftige lief, war sie, die mit Arbeit überhäufte, die eifrigste Sammlerin und Verteilerin. Unermüdlich war sie auf den Beinen. In einem anderen Sommer holte sie jeden Morgen eine hochgradig Schwindsüchtige im Rollstuhl aus Bad Oeynhausen, damit sie tagsüber in ihrem Garten die frische Luft genießen könne. Sie verpflegte sie vorzüglich und fuhr sie nach dem Abendbrot heim. Auch sonst war sie überall bekannt und geschätzt wegen ihrer steten Bereitschaft zu helfen und zu geben. Und was für ein schweres Tagwerk mußte immer wieder geschafft werden! Da Großvater so jung verunglückte – er muß 32 Jahre alt gewesen sein – war die Pension entsprechend klein, seine jahrelange Krankheit und Arbeitsunfähigkeit kostete viel. Also mußte Großmutter mitverdienen, trotz ihrer Kinderschar. Als sie in Rehme das eigene Haus bezogen hatten, nahm sie Kostgänger, hauptsächlich von der Weserhütte, auf, die sie größtenteils auch im Hause wohnen hatte. Ich besinne mich, daß die Rede davon war, daß sie z.T. sogar die Wäsche übernahm. Ohne ihre große Tatkraft und Ausdauer hätte sie diese Jahre gar nicht durchgestanden mit der Riesenlast an Arbeit neben Geburten, Krankheit, Tod der Kinder und zuerst dazu der Pflege des Mannes, die mit der Zeit weniger wurde. Als er besser laufen konnte, kassierte er für Versicherungen und dgl. und gewann dadurch kleine Nebenverdienste. Es mußte scharf gerechnet werden in jeder Beziehung. Im Hause und Garten schafften die größeren Kinder tüchtig mit.
Trotz der vielen Schwierigkeiten führten die Großeltern eine gute Ehe. Er wusste sehr gut, was er an ihr hatte, und trotz seines Starrsinns wegen des Glaubens der Kinder tat er alles, ihre kirchlichen Bedürfnisse zu ermöglichen. So kochte er z.B. an jedem Sonntag. Schon früh trat sie den weiten Weg (eine Stunde?) an in sonntäglichem Putz, und er sah ihr lange nach, wie er sie auch, bevor sie auf der geraden Straße in Sicht kommen konnte, vorm Hause unter der Linde wieder erwartete. Schon als ganz kleinen Punkt sah man die noch sehr weit Entfernten auftauchen. Danach richtete er das Essen ein. Einmal im Frühsommer, als das junge Gemüse noch im Kommen war, suchte er die allerersten Erbschen und zarte Würzelchen zusammen, kratzte ein paar so gerade annehmbare Kartöffelchen aus der Erde und bereitete für sie allein eine Extramahlzeit. Wo er nur konnte, dachte er sich Überraschungen und kleine Freuden für sie aus. Ich habe sie nie streiten hören. Wenn er sie durchs Haus rief, klang eine Wärme in seinem Ton: “Meine Mutter” nannte er sie gern. Sie mußte manches Mal auf ihn aufpassen, so z.B. wenn er beim Kassieren in einer Wirtschaft hängenblieb. So etwas kriegte sie mit Charme plus Energie zurecht. Großvaters Hobby und zugleich etwas Nebenverdienst bedeuteten sein Bienen, er besaß eine ganze Menge Körbe. Sie mußten in aller Frühe, ich glaube vor Sonnenaufgang, versorgt werden. Else, die schon immer ein Frühaufsteher war, ging dann gern mit in den Garten. Karl berichtet, Großvater habe ihn einmal aufgefordert, mit einem Stock in einem Flugloch zu stochern, woraufhin er furchtbar zerstochen worden sei und ärztliche Hilfe gebraucht habe. Ein Ereignis waren die alljährlichen Heidefahrten mit den Bienen. Mehrere Imker taten sich dazu zusammen. In der Nacht wurden die Stöcke mit den verklebten Fluglöchern auf große Leiterwagen geladen, und im ersten Morgengrauen fuhr die Kolonne los. Es war eine lange Fahrt, bis wir – wohl 2 mal durften wir mit – in dem einsamen Bauernhaus mitten in der Heide anlangten. Die Männer hatten mit den Bienen zu tun, wir erkundeten alles Neue und Interessante. Später gab es ein überaus üppiges “Besuchsmittagessen”, über das man kaum Herr werden konnte. Und dann kam das zugleich Lustigste und Anstrengendste: Wir mußten einen Mittagsschlaf halten. Die Betten waren nicht nur so hoch, daß man sie tatsächlich nur mit großer Mühe über Stühle erklettern konnte, sondern das Bettwerk so gewaltig dick und aufgeplustert, daß man hineinsank und versackte. Wir schliefen zwar ein vor Übermüdung, erwachten aber schweißgebadet. Nach einem Kaffee mit viel, viel Kuchen, erklommen wir endlich unsere Leiterwagen, in denen Schemel und Stühle für uns standen, wieder und kamen am sehr späten Abend oder in der Nacht todmüde zu Hause an, vollbefriedigt von dem für uns ereignisreichen Tag. In einem Jahr, als wir nicht mit waren, kehrte Großvater blutig geschlagen von einer solchen Fahrt zurück, er war überfallen worden.
Zum letzten Mal, soweit ich mich entsinne, war ich mit Mutter und Geschwistern in den Sommerferien 1912 dort. Das war in meinem letzten Lyzeumsjahr und vor meiner Konfirmation. Onkel Willys und Tante Hannes Hochzeit sollte in Barmen stattfinden. Leider mochte Großmutter Tante Hanne gar nicht – ich weiß den Grund nicht mehr. Großvater und Mutter sollten die Familie vertreten. Großmutter schenkte Mutter dazu eine ganz wunderschöne Spitzenbluse, weiß mit kleinen Samtknöpfchen am Vorderschluß, die sie zu einem schwarzen Rock trug. Ich sehe noch vor mir, wie die beiden Reisenden sich verabschiedeten und zum Bahnhof marschierten. Als am nächsten, dem Hochzeitstage, die Stunde der Trauung gekommen war, saß Großmutter im “Abee”, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte laut und verzweifelt: “Jetzt wir mein Junge unglücklich!” Großvater und Mutter berichteten nach ihrer Rückkehr von einer besonders schönen Feier, und das junge Paar kam nach seiner Hochzeitsreise fröhlich, ja übermütig an. Ich holte sie von Oeynhausen ab und staunte über ihre sprudelnde Lebhaftigkeit.
Aber ich selbst hatte in diesen Wochen auch ein besonderes Erlebnis. Onkel Walther befand sich ja in der Ausbildung zum Postdienst und wurde in diesen Jahren des praktischen Lernens alle paar Wochen oder Monate quer durch Deutschland geschickt. Er war in Ost- und Westpreußen so gut wie in Mittel- und Westdeutschland. Dabei lernte er immer andere Mädchen kennen, sein Herz entflammte schnell. Er meinte jedesmal ehrlich, nun habe er die endgültig Richtige gefunden – aber es gab eben mehr davon! Als in diesem Sommer unsere Reise nach Rehme feststand, schrieb er mir, ich sei für eine Woche eingeladen in die Familie seiner heimlichen Braut Lisbeth Steidle in Rahden in Westfalen. Sie freue sich sehr auf mich, und er sei froh, wenn sie seine Nichte (auf die er immer sehr stolz war) kennenlerne. Er meinte ja immer, wenn er ein Mädchen gefunden hatte, diesmal halte der Bund für immer, deshalb brachte er sie, wenn sie nicht gerade am anderen Ende Deutschlands wohnten, gern mit ins Elternhaus. Öffentlich verlobt war er nur einmal mit Emmi Klippenstein in Königsberg, bis eine Kollegin Lotte in Thorn ihn endgültig festhielt, nachher aber auch noch einige Klippen mit ihm umschiffen mußte. Wenn eine Verbindung auseinanderging, so mit Emmi, schrieben die armen Mädchen unglückliche Briefe an Mutter oder mich, mit denen er sie ja immer bald bekanntmachte. Nun also ging es um die sehr junge, dunkle Elisabeth Steidle, mit der ich seit einiger Zeit in Briefwechsel stand. Von ihren Eltern und ihr wurde ich sehr lieb aufgenommen. Ihr Vater war Silberschmied, fertigte besonders Filigranschmuck an. Eine hübsche Nadel, sein Abschiedsgeschenk, besitze ich noch. Es war ein grundsolides, wohlhabendes Bürgerhaus, Lisbeth das einzige Kind. An das behäbige Haus schloß sich ein großer Platz an mit einer Riesenlinde, unter der oft gegessen wurde. Dahinter lag ein weiter Gemüsegarten. Nun war gerade Einmachzeit. Wir standen früh auf, pflückten und verarbeiteten Obst und Gemüse und waren recht fröhlich dabei. Nachmittags unternahmen wir allerlei Schönes. So zogen wir mit etwa einem halben Dutzend ihrer Freundinnen in ein hübsches Heidehaus, das den Eltern der einen gehörte. Wir schmausten, spielten, besprachen Probleme, waren glücklich. Ein andernmal wurde am Abend eine fröhliche jugendliche Gesellschaft eingeladen. Wir saßen singend unter der Linde, erzählten und lachten viel und fühlten uns verbunden, als kennten wir uns schon lange. Hahn im Korb war ein junger Provisor. So gab es Tag für Tag frohe Erlebnisse, und die Woche enteilte viel zu schnell. Aufregend fanden wir es, wenn die Haustürschelle ertönte und junge Stimmen Freundinnenbesuch ankündigten. Dann rannte Lisbeth nach oben, versteckte schnell Onkel Walthers Bild und genoß die Heimlichtuerei. Was aus der lieben, fröhlichen Elisabeth später geworden sein mag? Wie leid tat sie mir nach dem Ende ihres Glücks! Sie selbst wie auch Onkel Walther benachrichtigte mich davon.
Das war im Sommer 1912. 1913 wurde ich konfirmiert und trat ins Oberlyzeum ein. Im folgenden März starb Großvater, und das liebe Jäckerhaus ging uns verloren, es umschloß für uns reiches Kinderglück, wenigstens für mich.
Als Nachlese nun noch einige Erinnerungen an unsere Großeltern und Rehme. Wahrscheinlich habe ich Euch schon erzählt, wie Großmutter als junge Frau in Dortmund einmal aus dem Hause trat zum Einkaufsgang. Draußen hielt ein Pferdewagen, von dem einige Männer 1 ½ Zentner schwere Kartoffelsäcke abluden und in das Gemüsegschäft im Erdgeschoß trugen. Sie hatten Gefallen an der adretten jungen Frau und neckten: “Fein angezogen spazierengehen – Das möchten wir auch!” Sie: “Wenn ich einen von diesen Säcken in meine Wohnung hinauftrage, gehört er dann mir?” Schallendes Gelächter: “Gewiß!” “Ich muß mich nur erst umziehen.” Sie sprang schnell hinauf, kam in Arbeitskleidung zurück, zog sich einen Sack auf den Nacken und wuchtete ihn die Treppen hinauf. Ja, so war Großmutter: schlagfertig, resolut, kräftig.
Vor ihrer Ehe war sie Köchin gewesen; ihre Dame richtete ihr die Hochzeit aus, da ihre Mutter damals schon mehr als 6 Jahre tot war. Großmutter kochte gut, besonders ihre speziell rheinischen Gerichte waren bei uns beliebt. Nur ihr Rhabarberkompott mochte ich nicht. Es war mir zu süß, mit Rosinen darin, manchmal gab’s Zwieback dazu. Aber ihre leckeren Arme Ritter, ihre Fleischsuppen und vorzüglichen Obstkuchen, die auf Riesenblechen zum Bäcker getragen und auf Holzbrettern wiedergeholt wurden – hm! Wenn wir nach den Ferien von Rehme wegfuhren, ging Großmutter mit Mutter und uns Kindern in eins der besten Bekleidungsgeschäfte Oeynhausens. Sie war sonst wirklich sparsam, aber dann war ihr das Beste für uns gerade gut genug. Wir bekamen besondere Geschenke mit. Ich besinne mich auf wunderbar zarte weiße Mullsommerkleider mit aparten rosa Ranken; ein andernmal waren es warme dunkelblaue Wintermäntel mit runden Metallknöpfen mit Glaseinlagen, die mich immer an Kalbsaugen erinnerten; einmal gab es hochwertige Stiefel oder Hüte – dieses Einkaufen war ein Fest! Und was bedeutete es für Mutter, wenn wir so gut eingekleidet wurden! Als Großmutter uns einmal zur Abfahrt an den Zug gebracht hatte und wir schon im Abteil saßen, sah sie Mutter an: “Kind, was habe ich denn noch für Dich, was können wir Dir geben?” Kurz entschlossen klappte sie ihren Sonnenschirm herunter, reichte ihn hinein: “Nimm den doch mit.” Lustig war es auch, wenn Mutter vor der Abreise packte. Dann gab es Szenen wie solche: Großvater winkte sie zu sich heran und nahm sie mit nach oben in den Vorratsraum, schnitt eine schöne große Mettwurst ab: “Pack sie schnell ein, Mädchen. Mutter braucht das nicht zu wissen!” Sie rannte damit zu dieser, die sich spitzbübisch freute. Sie gönnte sie ihrer Tochter ja allzu gern, nahm sie nun ihrerseits mit nach oben und schnitte etwa ein dickes Stück Schinken ab: “Dat brauchst du Vatter nit zu zeigen!” Und so wanderte noch manches Gute in den Koffer.
In Rehme wurde viel gewandert, und wir Kinder haben schon tüchtig mitgemacht, als wir noch verhältnismäßig klein waren. Unser Vater hatte uns ja gut trainiert! Hauptziel war meist die Porta. Wir erwanderten z.B. den Amtshausberg, den Wittekindsberg, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und freuten uns immer neu an der Weser, den Bergen, den Wäldern. Einmal waren wir sogar im Teutoburger Wald am Hermannsdenkmal. Eingekehrt wurde gewöhnlich nicht. Was uns stärken sollte, kam gewöhnlich aus Großmutters tiefen “Schlippen” im Rock: Eine verheißungsvolle Wurst, eine Flasche, bescheidene Süßigkeiten u.a. Wenn Großvater sich auffällig und umständlich mit diesen wichtigen Taschen zu schaffen machte, waren wir alle flink bei ihm, wenn wir vielleicht auch vorher müde hinterhergeschlendert waren. Er wußte gut den richtigen Zeitpunkt zum Lagern zu treffen. Er hatte wie immer seinen dicken “Eikmeier” (Eichenstock) bei sich, Großmutter ging fast nie ohne Sonnen- oder Regenschirm – je nach Witterung – schon ihrer Augen wegen. Wie graziös sie ihn anfaßte!
Im Hause Jäcker wurde viel musiziert und gesungen. Willi und Walther spielten Geige. Nach dem Abendbrot kamen die Freunde aus der Nachbarschaft. Namen, die mir geläufig geblieben sind: Karl Westermeier, den Willi in Berlin wiederfand und die einander treue Freundschaft bewahrten bis an Onkel Willis Tod, “Vetter Haupt” (kein Verwandter) und ein paar Brüder, auf deren Namen ich jetzt nicht komme. 2 von ihnen geigten auch. Onkel Franz, der ja in der Nähe wohnte, kam dazu; wer sonst noch Lust hatte, war ebenso willkommen. Und dann wurde gespielt und gesungen nach Herzenslust. Onkel Franz war so hingenommen, daß ihm helle Tränen über die Backen liefen bei Liedern wie: “Wer hat dich, du grüner Wald, aufgebaut so hoch da droben?” oder “O Täler weit, o Höhen…” Ein Volkslied nach dem anderen und Musikstücke ertönten, keinem konnte es zu viel werden. Aber endlich gebot Großmutter Schluß. “Gleich!” “Dies noch!” konnten nicht ewig weitergehen. Schließlich wurde sie handgreiflich, pachte die Burschen, schob sie zur Tür hinaus und schloß die Haustür hinter ihnen ab. Ihr erleichtertes “So!” erstarb sofort; denn grienend kam die Gesellschaft, die schnell ums Haus gelaufen und durch die Hintertür wieder hereingekommen war, aus der Küche auf sie zu. Das soll sich im Laufe der Zeit wiederholt haben. Sie schalt zwar, war aber als “Mutter Jäcker” ein guter Kumpel, ein fröhlicher Mensch. Besonders, wenn Mutter zu Hause war, kam man gern zusammen zu solchen musikalischen Abenden. Ein häufiger Ausspruch Großmutters: “Wat bitter is für den Mund, is für dat Herz jesund.” Das galt sowohl für Medizin und dgl. wie für Trauer, Enttäuschungen, Nöte usw. Was uns gar nicht gefiel: Großmutter kurierte am liebsten alle Wehwehchen mit dem grünen, uns widerwärtigen “Brustpulver”. Es schmeckte süßlich und widerlich. Erwähnen möchte ich noch, daß Großmutter, als unsere Else schon geboren war, also mit etwa 52 Jahren, einen Abort hatte. Wir wohnten damals in Oeynhausen, Mutter wurde eines Nachts alarmiert und rannte den weiten Weg hinunter. Es wären Zwillinge geworden, 2 Jungen, ihre 14. und 15. Kinder!
2 Bilder stehen sehr deutlich vor mir, die in der “guten Stube” über dem Sofa hingen. Die Originalphotographie könnte aus der Zeit der Silberhochzeit gestammt haben, Großvater stehend, Großmutter sitzend. Onkel Willi hatte als Kohlezeichnungen 2 hervorragend schöne Bilder daraus gemacht, sehr groß und ganz lebensnah. Man sah sie immer wieder mit Freuden an. Wahrscheinlich hat er sie bei der Auflösung des Haushaltes nach Großvaters Tod wieder an sich genommen, und bei den Berliner Bombenangriffen werden sie vernichtet worden sein. Ein Jammer! Sie hätten für die Familie bleibenden Wert gehabt.
Noch etwas steht mir vor Augen, wenn ich an Großmutter denke: Wenn sie uns besuchte, hatten Mutter und Tochter einander so viel zu erzählen, daß es vorkam, daß beide noch urgemütlich am Kaffeetisch saßen, wenn ich aus der Schule kam. Hui, da flogen die Hände und Füße aber! Wenn Vater zu seiner kurzen Mittagspause nach Hause kam, mußte alles auf dem Tisch parat stehen. Und das tat es auch! Mutter arbeitete flink.
Alle Geschwister außer Onkel Ferdinand aus Amerika waren zum letzten Mal beieinander bei Großmutters Beerdigung im Juli 1919. Sie lebte ja die letzten 5 Jahre bei uns und hatte es gut bei ihrer Tochter, nach deren Einstellung – das blieb so! – eine Mutter immer den Vorrang hat auch vor Mann und Kindern. Daß sie danach handelte in der versorgungsschwierigen Zeit, konnte ich im Blick auf unseren hart arbeitenden Vater nicht verstehen. Er wurde so hinfällig, Mutter selbst fühlte sich elend und schwach; aber es war selbstverständlich, daß Großmutter von allem das Beste bekam, von sehr knappen Sachen wie Butter das meiste oder alles. Sie selbst ist das wohl gar nicht gewahr geworden; denn Mittags aß Vater allein, wenn er um 15 Uhr aus dem Geschäft kam, und abends brachte Mutter ihr das Essen in ihr Zimmer. Sie konnte ja auch nicht alles sehen. Daß ich es im 2. Weltkrieg, den Mutter größtenteils bei uns verbrachte, anders hielt mit den Rationen unserer Kinder, bemängelte sie. Da sie größere Mengen als wir an Gemüse, vor allem Rüben und Kartoffeln zu sich nähmen, hätten sie genug an ihren eigenen Zuteilungen an Fett, Fleisch, Milch. Es sei unrecht, wenn ich, die ich so viel leisten müsse und so elend aussähe, ihretwegen auf manches verzichte. Das brauche und dürfe ich nicht. Dabei war sie selbst bescheiden und gab gern ab, wenn sie etwas hatte. Natürlich bekam sie ihre Ration Butter, sonstige besonders knappe Sachen und gewisse etwaige Sonderzuteilungen extra. In Neumünster lernte Mutter auf dem Markt die Bäuerin Frau Harm aus Gadeland kennen, die sich erbot, ihr jeden Sonnabend nach dem Abendmelken 3 l Vollmilch für Großmutter zu liefern, nach Möglichkeit auch selbstbereiteten Quark, den sie allabendlich aß. Unter 1 ¼ – 1 ½ Stunde konnten wir den Weg zu Frau Harm (Tante Harmlein nannte Erich diese gutmütige Frau später) keinesfalls zurücklegen. So kamen wir abends oft erst im Dunkeln nach Hause, zumal oft recht spät gemolken wurde. Durch geschickte Aufbewahrung verteilte Mutter die 3 Liter auf die ganze Woche. Vater murrte manchmal über diese anstrengenden Wege, wollte aber, weil es um Großmutter ging, nicht zu viel sagen. Aber einmal war er sehr böse. Es herrschte gefährliches Glatteis und er wollte uns nicht weglassen. Mutter ließ sich nicht halten. Schon der Hin-, erst recht aber der Rückweg wurden für uns beide lebensbedrohend. Auf der spiegelblank gefrorenen Chaussee konnten wir nur trippeln, fielen öfter hin und kamen sehr, sehr spät total erschöpft nach Hause, wir konnten einfach nicht mehr. Vater lag im Bett, wies das Abendbrot ab und sprach tagelang kein Wort mit Mutter.
An ihrem 70. Geburtstag (17.9.1918) sagte Großmutter ernsthaft und bestimmt: “Am 1. Juli werde ich sterben.” Wir glaubten ihr natürlich nicht, lachten, erklärten das für eine fixe Idee. Sie blieb dabei. In der Folgezeit wurde kaum mehr darüber geredet. Sie war auch nicht krank, sondern noch ganz stabil, ging jeden Morgen zur 7-Uhr-Messe, hatte normalen Appetit, schälte Kartoffeln, war vergnügt. Wohl litt sie an chronischem Asthma, hatte immer einen Deckelbecher bei sich, in den sie nach furchtbarem häufigem Husten, wobei sie hochrot wurde, schwitzte, ihr die Tränen übers Gesicht rannen, zähen Schleim abgab. Solche Anfälle hatte sie auch nachts. Dann stand Mutter auf, stützte sie, wischte ihr den Schweiß ab. Aber das war uns eine gewohnte Sache, wir nahmen es nicht als gefährlich an, nur sehr unangenehm. Sonst klagte Großmutter über nichts.
Am Fronleichnamstag 1919 kam Großmutter aus der Kirche, legte sich in ihrem Zimmer mit ausgebreiteten Armen auf den Fußboden und sagte: “Nun kreuzigt mich!” Wir waren erschüttert, konnten sie nur schwer hochkriegen und ins Bett legen. Vorher hatten wir nichts Außergewöhnliches an ihr bemerkt, erfuhren dann aber von Gemeindegliedern, daß ihnen in der Kirche manches an ihr aufgefallen sei. Einer hatte gesehn, wie sie am Monatsersten ihre gesamte Rente, vielmehr Pension (25 M), in die Kollekte geworfen hatte. Sie setzte sich gerade im Bett auf, so daß Rücken und Beine einen rechten Winkel bildeten, duldete kein Kissen als Stütze, wollte nicht mehr essen und trinken und sagte unaufhörlich Bibelsprüche auf, wobei sich eine feste Reihenfolge herausbildete. O, wie klingt’s mir noch in den Ohren: “Himmel und Erde werden vergehn, aber…” Ihr Mund trocknete aus, ihre Lippen zersprangen, aber sie ergab sich nicht. Man konnte sie nur zum Schweigen bringen, wenn man ihre Hände festhielt und an ihrer statt sie Bibelverse sprach. Sie hörte sehr aufmerksam zu und nickte bestätigend. Wenn sie so einen Augenblick zur Ruhe kam, waren wir froh. Den Arzt empfing sie mit der Frage: “Bist du mein Sohn Carl?” Er bejahte. Sie betrachtete ihn eingehend und spuckte ihm dann einen gehörigen Klacken ins Gesicht. Wir konnten gar nicht verstehen, wie ihr Körper überhaupt noch Flüssigkeit bilden konnte. Eine katholische Lehrerin steckte ihr eine saftige Erdbeere in den Mund. Erst wies sie sie zurück, lutschte dann gierig daran und unversehens klebte sie im Gesicht der Besucherin. Als Vater, der doch immer so viel Rücksicht auf sie nahm, im Nebenzimmer sich lautlos aufhielt und sie ihn auch nicht sehen konnte, rief sie: “Da drüben ist der Teufel!” Der katholische Pastor kam natürlich öfter und wurde begrüßt: “Du Satan!” Ob diese furchtbare Zeit 1 oder 2 Wochen gedauert hat oder noch länger, kann ich nicht mehr sagen. Wenn Mutter es gar nicht mehr aushalten konnte, ging sie ins Schlafzimmer nebenan, rasselte mit der Nähmaschine und vergoß heiße Tränen. Wie der Körper diese unnatürliche Stellung aushielt, wie sie ohne Essen und Trinken und mit nur ganz wenig Schlaf auskam, und bei allem diese ständige Spuckerei aushalten konnte, blieb uns ein Rätsel. Wir meinten, sie müßte verhungern oder eher noch verdursten. Was für eine unglaubliche Energie steckte in diesem nun so ausgemergelten Körper! Am 30. Juni abends gab der Arzt ihr eine Beruhigungsspritze, die erstmals bewirkte, daß Großmutter in einen festen Schlaf fiel und ihr Leib sich entspannte. Als ich am nächsten Abend nach Hause kam, war es immer noch still in der Wohnung. Sie war gerade vorher um 18 Uhr entschlafen. Der furchtbare Kampf hatte ein Ende. “Religiöser Wahnsinn” schrieb der Arzt auf den Totenschein. Wir waren bewegt und bestürzt: wir schrieben den von ihr vorhergesagten 1. Juli! Sie hatte keinerlei Möglichkeit gehabt zur Selbstsuggestion, ahnte nichts von Zeit und Umständen.
Zur Beerdigung stellten sich die Söhne ein, erst am Abend vorher Carl und Walther. Wir saßen gemütlich zusammen, als Franz und Willy ziemlich laut erschienen und eine merkwürdige Atmosphäre im Zimmer verbreiteten, eine spürbare Spannung, die wie ein Riß uns trennte. Als Mutter fragte, ob sie Großmutter sehen wollten, die nebenan aufgebahrt war und nun wunderbar friedlich, ja schön aussah. Erst verneinten sie, aber schließlich nahm Mutter sie mit hinüber und stand lange mit ihnen vor der stillen Gestalt. Sie kamen verändert zurück. Der schwelende Ungeist zwischen Carl und Willy war zur Ruhe gekommen (Sie litten beide am Bewußtsein gegenseitiger Mißachtung). Der Abend des Beerdigungstages verlief im Familienkreis wohltuend harmonisch, nachdem die katholische Trauerfeier im Hause mit guter Beteiligung alle angefaßt hatte. Am nächsten Morgen in aller Frühe nahmen wir an der Seelenmesse in der katholischen Kirche geschlossen teil.
Die Brüder blieben noch einige Tage bei uns. Sie ließen sich mit ihrer Schwester photographieren, damit auch Ferdinand eine Vorstellung bekommen könne, wie seine Geschwister jetzt aussähen, die ihn gemeinsam mit dieser Aufnahme grüßten. Sie machten Ausflüge zusammen nach Kiel-Laboe, in die holsteinische Schweiz und in die nähere Umgebung und hatten alle das Gefühl, sie könnte evtl. zum letzten Mal so zusammen sein.
Bald nach Großmutters Tode bekamen wir, besonders ich, häufig Besuch vom katholischen Pfarrer und seinem Kaplan. Sie wollten mich unbedingt hinüberziehen zu ihrem Glauben. Wir saßen mit aufgeschlagener Bibel beieinander, und wenn ich meinte, mit einer Stelle sie überzeugen zu können, hieß es: “So hat ja nur Luther das übersetzt!” Ungezählte Auseinandersetzungen folgten aufeinander. Ich hielt mich immer nur an die Schrift. Einmal sagte der Pastor: “Ich will nicht bestreiten, daß sie mit ihrem Glauben auch selig werden können, aber urteilen sie selbst: Wenn sie den gewaltigen Ozean überqueren müssen und am Strande ein stolzes, sicheres Dampfschiff neben einem schaukelndem Kahn sehen, welches Fahrzeug würden sie besteigen?” Schließlich gingen sie dazu über, mich weich machen zu wollen mit der Frage, ob ich ruhig bleiben könne bei dem Gedanken, Großmutter die Qual des Fegefeuers verkürzen oder erleichtern zu können und das zu verweigern? Sie stehe doch trotz all ihrer Kinder mit leeren Händen vor Gott als Wortbrüchige. Als diese ergebnislosen Gespräche gar nicht aufhören wollten, trat Vater eines Tages dem sich verabschiedenden Pastor entgegen: “Ich wünsche, daß sie meine Wohnung nie wieder betreten.” Damit war auch wirklich Schluß. Ich hatte aber nun erst begriffen, was Großmutter gelitten haben mußte. Sie klagte bei uns nicht über ihre große Not, die sie nicht mehr abändern konnte. Aber wie muß sie sie bedrückt haben, verschärft durch die Vorwürfe und wohl sogar Drohungen der Kirche! Ich war im Sommer 1918 in ein bewußtes Glaubensleben getreten und konnte mit Großmutter alles frei besprechen. Ab Herbst zog mich Fräulein Kröger zur Mitarbeit in ihrem Jungmädchenkreis heran. Ich las Großmutter immer meine wörtlich ausgearbeiteten Bibelstunden vor, und wir tauschten unsere Gedanken darüber aus. Bei solcher Gelegenheit sagte sie einmal bewegt: “Ach, wenn du doch nicht nur ein Heilandskind, sondern auch ein Marienkind würdest!” Die Arme hatte im Anfang ihrer Ehe um all ihre Kinder, dann wenigstens noch um ihre Tochter gerungen und nun um ihre Enkelin. War da ihre letzte schwere Krankheit, der “religiöse Wahnsinn”, ein Wunder? Wahrscheinlich begünstigte eine vorhandene Arterienverkalkung diesen Ausbruch. Sie ist ihr Leben lang sehr gut zu uns gewesen. Wir hätten sie noch viel lieber haben sollen.